Die Umarmung der Unvollkommenheit: Eine yogische Reise zur Selbstliebe

In dem Film "A River Runs Through It" wird die Geschichte eines Vaters erzählt, der mit dem unermesslichen Verlust seines Sohnes konfrontiert wird. Obwohl er die Entscheidungen seines Sohnes – seine Spielsucht und seinen selbstzerstörerischen Lebensweg – nie vollständig verstehen konnte, blieb seine Liebe zu ihm ungebrochen. Diese Liebe floss wie ein Fluss – beständig, unaufhaltsam, jenseits von Vernunft und Urteil.

Stell dir vor: Wie würde dein Leben aussehen, wenn du dir selbst mit dieser gleichen bedingungslosen Akzeptanz begegnen würdest? Yoga lehrt uns, dass wahre Liebe nicht an Bedingungen geknüpft ist. Sie fließt einfach – unabhängig von unseren Schwächen und Fehlern.

Die Wurzeln der Konditionierung: Wie wir uns selbst verlieren

Schon als kleine Kinder lernen wir eine wichtige, aber tückische Lektion: Lob und Anerkennung erhält man, wenn man die Erwartungen anderer erfüllt. Erinnerst du dich noch an die Zeit, als du in der Schule für eine fehlerfrei gemachte Hausaufgabe mit einem glänzenden Stern belohnt wurdest? Vielleicht hing dieser Stern stolz an der Klassenzimmerwand oder wurde liebevoll in dein Heft geklebt. Diese kleinen Belohnungen waren nicht bloß Aufmerksamkeiten – sie formten tiefgreifend unser Verständnis davon, was „gut“ und „liebenswert“ bedeutet.

Zuhause verstärkte sich dieses Muster oft: Ein strahlendes Lächeln der Eltern, wenn man bereitwillig sein Spielzeug teilte, oder ein lobendes Wort, wenn man pflichtbewusst seine Aufgaben erledigte. Nach und nach verinnerlichten wir eine stille Botschaft: Du bist dann liebenswert, wenn du andere glücklich machst.

Dieses frühe Programmieren (in der yogischen Sprache als Vasanas bezeichnet​) trägt viele von uns bis ins Erwachsenenalter. Wir übernehmen zu viele Aufgaben, um andere nicht zu enttäuschen, sagen „Ja“, wenn wir innerlich „Nein“ meinen – und verlieren dabei die Verbindung zu unseren eigenen Bedürfnissen und Wünschen, unserem Svadharma (eigene Natur und Pflicht).

Wissenschaftliche Perspektive: Die Folgen der Selbstverleugnung

Auch die moderne Psychologie bestätigt diese alten yogischen Erkenntnisse: Das ständige Unterdrücken eigener Gefühle erhöht das Stresshormon Cortisol und schwächt auf Dauer unser Immunsystem​. Unausgesprochene Emotionen verschwinden nicht einfach – sie wachsen wie stille Schatten und manifestieren sich später als Angstzustände, Depressionen oder psychosomatische Beschwerden.

Yoga lehrt uns durch Praktiken wie Pratyahara (Zurückziehen der Sinne) und Dhyana (Meditation)​, wieder nach innen zu lauschen, unsere echte Stimme zu entdecken und das eigene Herz mit Mitgefühl wahrzunehmen.

Die heilende Kraft der Berührung

Eine weitere Rückverbindung zu unserer Essenz geschieht über etwas, das so alt ist wie die Menschheit selbst: Berührung. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass regelmäßige Umarmungen den Cortisolspiegel senken und das Immunsystem stärken​.

Yoga versteht Berührung tiefergehend: nicht nur als physischen Kontakt, sondern als Samyama – eine liebevolle, aufmerksame Vereinigung von Herz zu Herz. Ob durch eine Umarmung, eine sanfte Berührung der Hand oder einen freundlichen Blick – wir nähren unsere Seele und die der anderen.

Enttäuschung als Tor zur Authentizität

Enttäuschung in Beziehungen wird oft als Scheitern wahrgenommen. Yoga hingegen ermutigt uns zu Viveka (Unterscheidungsvermögen): Enttäuschung ist kein Ende, sondern ein Weckruf. Sie zeigt, dass Bedürfnisse oder Erwartungen unausgesprochen geblieben sind.

Wenn wir Enttäuschungen ignorieren, entstehen innere Blockaden (Hridaya Granthi), die unsere Lebenskraft lähmen​. Werden sie jedoch mit Mut und Ehrlichkeit ausgesprochen, vertiefen sie Verbindungen und bringen wahre Heilung.

Yoga: Die Rückkehr zum wahren Selbst

Yoga ist nicht nur eine körperliche Disziplin – es ist die Rückkehr zu unserem innersten Sein, zu unserem unzerstörbaren Atman. Jede Asana, jede bewusste Atmung, jede Meditation ist ein Schritt zurück nach Hause​​.

Durch das Üben von Satya (Wahrhaftigkeit) nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber uns selbst, beginnen wir wieder, unser wahres Licht zu erkennen: Wir sind von Natur aus vollständig.

Praktische Impulse:

  • Tägliche Selbstreflexion (Svadhyaya): Frage dich jeden Tag: Was fühle ich wirklich – ohne Urteil?

  • Pratyahara üben: Tägliche Momente der Stille, in denen du äußere Reize bewusst loslässt.

  • Bewusste Berührungen schenken: Eine Umarmung oder ein liebevolles Streicheln der Hand heilt oft mehr als Worte.

  • Enttäuschungen ansprechen: Trau dich, ehrlich über deine Bedürfnisse zu sprechen – liebevoll und respektvoll.

In einem Leben, in dem Selbstannahme und Authentizität wieder Raum bekommen, erfüllen wir die älteste aller Weisheiten, die Yoga uns lehrt: Dein bloßes Sein ist genug.

Reference:

Love for imperfect things by Heamin Sunim

Yoga Sutras of Patanjali

Change your Brain, Change your life by Dr. Daniel G. Amen

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