Dem Heiligen und Unheiligen in uns begegnen: Eine yogische Betrachtung über das Tierische und das Göttliche im Menschen

Der Mensch ist ein Tier, das gelernt hat zu denken, zu fühlen und zu schaffen. Unser Weg der Evolution – von der Instinktwelt der Natur bis zur bewussten Reflexion über uns selbst – ist lang und geheimnisvoll. Doch trotz all unseres Fortschritts bleibt eine Wahrheit bestehen: In uns lebt immer noch das Tier, das kämpft, begehrt, fürchtet und verteidigt. Das ist keine Beleidigung unserer Menschlichkeit, sondern eine Einladung, sie tiefer zu verstehen.

Heute sehen wir viele, die sich selbst als „heilige Menschen“ oder gar als „menschgewordene Götter“ darstellen – als erleuchtete Lehrer, die angeblich ihre niedere Natur überwunden haben. Aber nach der Yogaphilosophie liegt wahre Heiligkeit nicht im Verdrängen oder Leugnen unseres Menschseins, sondern im Erkennen und Integrieren. Swami Krishnananda erinnert in The Yoga of Meditation daran, dass Spiritualität kein äußeres Schauspiel, sondern ein innerer Zustand des Seins ist – ein Zustand der Harmonie und Ganzheit.

Ein wahrhaft spirituelles Leben ist kein Auftritt, sondern eine ehrliche Begegnung mit sich selbst.

Die doppelte Natur des Menschen

Jeder Mensch trägt Gegensätze in sich: Mitgefühl und Härte, Großzügigkeit und Gier, Gelassenheit und Zorn. Der gleiche Geist, der für Frieden betet, kann Eifersucht empfinden. Dasselbe Herz, das liebt, kann verletzen. Diese Erkenntnis ist kein Scheitern an Moral – sie ist der Beginn von Weisheit.

Doch die moderne Gesellschaft lehrt uns, nur die „helle Seite“ zu zeigen. Wir posten unser Lächeln, verbergen unsere Trauer, und schmücken unsere Persönlichkeiten, bis selbst wir vergessen, wer wir wirklich sind. Diese ständige Selbstdarstellung erzeugt eine gefährliche Spaltung im Inneren. Swami Krishnananda nennt dies in True Spiritual Living eine „Selbstentfremdung“, bei der äußere Fassade und innere Wahrheit auseinanderfallen.

Wenn ein Mensch seine dunklen Impulse – Zorn, Neid, Angst, Begierde – ständig verdrängt, statt sie zu verstehen, tauchen sie später in anderer Form wieder auf: als Depression, als Erschöpfung, als Unruhe.

Patanjali beschreibt diesen Zustand als Chitta-Vritti, als unruhige Bewegungen des Geistes. Yoga bedeutet, diese Bewegungen nicht zu zerstören, sondern sie zu erkennen und zu verwandeln.

Das Tier in uns – Annahme statt Ablehnung

Unsere „tierischen“ Eigenschaften sind keine Fehler, sondern Rohformen von Energie. Wut konnte uns einst beschützen, Verlangen hat uns wachsen lassen, Konkurrenz hat uns erfinderisch gemacht. Yoga lehrt, dass alle Emotionen Formen von Prana sind – Lebensenergie. Wird sie richtig gelenkt, wird selbst die stärkste Emotion zu einer Kraft des Mitgefühls und der Kreativität.

Swami Krishnananda schreibt in The Process of Spiritual Practice, dass spirituelle Übung (Sadhana) dort beginnt, wo wir aufhören, uns nur mit der einen Seite unseres Wesens zu identifizieren, und beginnen, beide Seiten zu sehen – Licht und Schatten.

Meditation und Swadhyaya (Selbststudium) sind die Werkzeuge, die uns diese Klarheit schenken. In der Meditation beruhigen wir den Sturm; durch Selbstreflexion verstehen wir seinen Ursprung.

Swadhyaya – Der Spiegel des Selbst

Swadhyaya ist eines der Niyamas im achtgliedrigen Pfad des Yoga. Es bedeutet nicht nur das Lesen heiliger Schriften, sondern die ehrliche Erforschung des eigenen Inneren:
Wer bin ich jenseits meiner Reaktionen?
Warum fühle ich mich eifersüchtig, ängstlich oder wütend?
Was versuche ich zu schützen oder zu beweisen?

Diese Fragen erfordern Mut. Der Geist wehrt sich dagegen, weil er fürchtet, was er entdecken könnte. Doch wie die Upanishaden sagen: „Erwache, erhebe dich, und halte inne, bis das Ziel erreicht ist.“

Swami Krishnananda beschreibt in Sadhana – The Spiritual Way, dass wahre Selbsterkenntnis nicht durch Flucht, sondern durch ehrliche Betrachtung der eigenen Schatten entsteht.

Das Heilige und das Unheilige vereinen

Spiritualität bedeutet nicht, über Nacht zum Heiligen zu werden. Der Heilige und der Sünder leben in jedem von uns. Yoga lehrt keine Verdrängung, sondern Integration. In der Meditation lassen wir alles auftauchen – auch das, was wir nicht mögen. Wir betrachten es nicht mit Urteil, sondern mit Bewusstsein. Dieses Bewusstsein verwandelt Gift in Heilmittel.

Wut, wenn erkannt, zeigt, wo wir uns machtlos fühlen.
Verlangen zeigt, wonach wir uns wirklich sehnen – nach Liebe, Bedeutung, Verbindung.
Angst weist auf unsere Bindungen hin.
Neid zeigt, wo wir uns ungenügend fühlen.

Jede Emotion kann, wenn sie mit Achtsamkeit betrachtet wird, zum Tor der Erkenntnis werden. Swami Krishnananda nennt diesen Prozess Selbstintegration – das Zusammenführen der inneren Fragmente zu einer harmonischen Einheit.

Nur wer aufhört, gegen sich selbst zu kämpfen, kann seine Energie in etwas Konstruktives verwandeln.

Den Schatten in Licht verwandeln

Mit Bewusstsein beginnt Wandlung. Wer Schmerz erfahren hat, kann Kunst schaffen, die heilt. Wer Einsamkeit kannte, wird einfühlsam. Wer Angst besiegt, kann anderen Mut machen. Yoga zeigt uns, dass nichts verloren ist – selbst Dunkelheit kann zur Quelle der Erkenntnis werden.

Krishnananda beschreibt Yoga als „System der Harmonie“ – die Kunst, die menschliche Persönlichkeit mit dem Rhythmus des Universums in Einklang zu bringen. Diese Harmonie entsteht nicht durch Unterdrückung, sondern durch Verwandlung.

Die Energie, die einst als Zorn erschien, wird zu Stärke; die Begierde wird zu Kreativität; die Angst wird zu Achtsamkeit. So verwandelt sich das Tier in uns in Bewusstheit.

Die Maske der Heiligkeit

In unserer Zeit ist Heiligkeit oft zu einer Inszenierung geworden. Je ruhiger jemand wirkt, desto mehr Bewunderung erhält er. Doch Yoga warnt davor, äußere Erscheinung mit innerer Verwirklichung zu verwechseln. Swami Krishnananda sagt in The Study and Practice of Yoga: „Das spirituelle Leben ist positiv, nicht strafend.“

Wahre Heiligkeit entsteht nicht durch das Leugnen der Welt, sondern durch tiefes Annehmen des Lebens in seiner Ganzheit.

Ein echter Lehrer nennt sich nicht Gott, sondern zeigt dem Schüler, wie er sich selbst erkennen kann. Spiritueller Hochmut – das Gefühl, bereits erleuchtet zu sein – ist die subtilste Form des Ego. Deshalb ist die Frage nicht, ob es heilige Menschen gibt, sondern ob wir bereit sind, ehrlich zu leben.

Die innere Revolution

Wenn wir aufhören, uns als „nur gut“ darzustellen, und beginnen, unser ganzes Wesen zu sehen, geschieht etwas Wundervolles: Frieden. Akzeptanz befreit die Energie, die bisher in der Verdrängung gebunden war. Der geteilte Geist heilt. Meditation wird dann kein Zwang, sondern ein Zustand des natürlichen Seins.

In Yoga as a Universal Science beschreibt Krishnananda Yoga als „die Wissenschaft des Lebens selbst“, die Körper, Geist, Gefühl und Seele in Einklang bringt. Der Weg vom Tier zum Göttlichen ist kein Akt der Flucht, sondern der Verfeinerung.

Yoga verwandelt uns nicht in jemand anderes – es bringt uns zu dem, was wir wirklich sind: ganz, echt und gegenwärtig.

Der wahre Yogi

Ein wahrer Yogi flieht nicht vor der Welt, sondern begegnet ihr bewusst. Er erkennt seine Wut, bevor sie verletzt, sein Begehren, bevor es bindet, seine Eifersucht, bevor sie vergiftet. Er verwandelt Reaktion in Erkenntnis – und Erkenntnis in Mitgefühl.

So wird Yoga zu einer Lebensweise, nicht nur zu einer Praxis auf der Matte. Es ist die Begegnung mit dem Heiligen und dem Unheiligen in uns, mit Licht und Schatten – und das Verbeugen vor beiden, weil beide uns lehren.

Das Paradox des Yoga ist, dass Heiligkeit genau in dem Moment entsteht, in dem wir aufhören, sie erzwingen zu wollen. Denn, wie Krishnananda sagt: „Die Kraft des Yoga liegt in uns selbst.“

Sie liegt nicht in Tempeln, Gurus oder Ritualen, sondern in unserer Bereitschaft, uns selbst ehrlich zu erkennen – und daran zu wachsen.

Schlussgedanke :Die Brücke zwischen Himmel und Erde

Der Weg des Yoga ist der Weg von der Zerrissenheit zur Einheit, von der Fassade zur Authentizität, vom Instinkt zur Bewusstheit. Wir sind die Brücke zwischen dem Tier und dem Göttlichen. Wenn wir beide Seiten annehmen, heilt das Herz.

Ein wahrer Heiliger ist nicht der, der das Tier in sich vernichtet, sondern der, der es versteht und verwandelt.

Ein Yogi ist ein Mensch – vollständig, mutig und bewusst.
Und in diesem Zustand der Ganzheit, in dem nichts verleugnet wird, entdecken wir schließlich, was Göttlichkeit wirklich bedeutet: nicht die Flucht vor unserer Natur, sondern die Erkenntnis, dass auch sie heilig ist.

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Der stille Dieb der Freude: Wie Erwartungen unser Leben überschatten – und wie Yoga uns befreit

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Yoga: Eine lebenslange Reise der Harmonie und inneren Entwicklung